Die Säftelehre (Humoralpathologie) beschrieb das Gleichgewicht und die richtige Zusammensetzung der Körpersäfte als wichtigste Voraussetzung für die Gesundheit. Entwickelt wurde sie von Hippokrates von Kos (ca. 460 bis ca. 370 v. Chr.) und Galenos von Pergamon ca. 129 bis ca. 216 n. Chr.). Bis ins siebzehnte Jahrhundert war sie die anerkannte Konzeption zur Erklärung körperlicher Vorgänge und Krankheitsbilder. Die Harnschau (Uroskopie) war eines der gebräuchlichsten Mittel zur Diagnose. Der Prediger Berthold von Regensburg rühmte im 13. Jahrhundert die "Kunst der hohen Meister, die an einem Glase des Menschen Nature und sinen Siechtuom erkennen können". Lehrbücher der Harnschau von Maurus von Salerno oder Ägidius von Corbeil, beide aus dem 13. Jahrhundert, blieben medizinische Standardwerke über Jahrhunderte. Das Bild der Sammlung entstand um 1700, über den Künstler ist bisher nichts bekannt. Ein weißbärtiger, offenbar erfahrener Arzt sitzt am Tisch seiner Praxis und betrachtet mit prüfendem Blick eine Urinprobe, die er in einer bauchigen Flasche gegen das Licht hält. Im Halbdunkel des Hintergrunds warten zwei Patienten. Der eine ist zur Seite gesunken, der andere verharrt mit geschlossenen Augen, möglicherweise leidet er Schmerzen. Offensichtlich bedürfen sie ärztlichen Beistands. Die Lichtführung betont das Gesicht des Arztes, die Urinflasche in seiner Hand und den Schemel mit einem weißen Tuch und einem Wasserkrug. Dort finden sich auch die dominierenden Farbakzente im roten Gewand und dem blauen Tischtuch. Das Gemälde zeigt eine Szene, die bereits 100 Jahre zurückliegt und es bleibt offen, ob ihrer Genrehaftigkeit auch parodistischen Absichten zugrundeliegen.