Das Bildnis des französischen Kanzlers Guillaume Jouvenel des Ursins von der Hand des Jean Fouquet ist unbestritten ein besonderes Glanzstück der weltberühmten Sammlung des Berliner Kupferstichkabinetts. Es ist zugleich die einzige erhaltene Zeichnung, die Fouquet heute mit Sicherheit zugeschrieben werden kann. Max J. Friedländer entdeckte das zuvor namenlose Blatt 1910 unter den niederländischen Zeichnungen im Kupferstichkabinett und erkannte den Zusammenhang mit Fouquets im Louvre aufbewahrter Bildnistafel des Kanzlers. Guillaume Jouvenel des Ursins, Baron von Trainel (1401–1472) gehörte einer der mächtigsten französischen Familien an und war als Kanzler von 1445–1461 und von 1465 bis zu seinem Tode zugleich der wichtigste Amtsträger Frankreichs unter Karl VII. und Ludwig XI. Der konkrete Anlass und die Bestimmung des Porträtgemäldes sind nicht bekannt.
Die Zeichnung lässt aufgrund der starken Nahsicht und des außergewöhnlichen Realitätsgrades vermuten, dass Fouquet das ins Dreiviertelprofil nach rechts gedrehte Gesicht direkt nach der Natur studierte. Er dokumentierte dabei sämtliche Unebenheiten und Falten und richtete alle Aufmerksamkeit auf sein Gegenüber, während er die Kleidung nur in Form eines Mantelkragens beiläufig andeutete. Hierin, wie auch in der Unmittelbarkeit und größeren Natürlichkeit liegen deutliche Unterschiede zur Gemäldeausführung. Diese mögen belegen, dass die Zeichnung dem Gemälde vorausging und nicht etwa als Kopie oder Nachzeichnung desselben entstand. Die deutlichen Abweichungen erklären zudem, dass weder Zeichnung noch Gemälde Hinweise für eine direkte mechanische Übertragung des Motivs aufweisen.
Die ungewöhnliche Technik der Zeichnung veranlasste Friedländer dazu, jene als „Inkunabel der Pastellmalerei“ zu bezeichnen. Nach eingehender visueller Untersuchung stellt sie sich heute als aufwändige Mischtechnik dar. Fouquet verwendete farbige Kreiden, ergänzte diese jedoch mit rosafarbener Gouache, die er mit einem Pinsel auftrug. Darüber hinaus zeichnete er auf grau grundiertem Papier als Mittelton, der es ihm nicht nur ermöglichte, mit den dunklen Kreiden Form und Schatten, mit den hellen die Lichter zu setzen, sondern in Kombination mit der zarten Rot- und Rosatonigkeit zugleich die natürliche Farbigkeit der menschlichen Haut zu evozieren. Aufgrund dieser differenzierten farblichen Akzentuierung, des Formats von annähernd Lebensgröße und der frühen Entstehung muss diese Bildnisstudie auch in technischer Hinsicht als Solitär ihrer Epoche angesehen werden. Es gibt nichts Vergleichbares aus der Zeit zuvor, weder südlich der Alpen noch im Norden.
Text: Georg Josef Dietz und Dagmar Korbacher, in: Jean Fouquet. Das Diptychon von Melun; für die Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin herausgegeben von Stephan Kemperdick, Ausstellungskatalog Gemäldegalerie Berlin, Petersberg 2017, Kat. 3, S. 162 (mit weiterer Literatur)