Im Museum der Natur Gotha wird ein altes anatomisches Präparat aufbewahrt, welches zu jeder Zeit großes Interesse bei den Besuchern fand. Neugier und Spaß an Gruselgeschichten mögen vor allem die Ursache dafür sein, dass der kleine »Muskelmann« bis auf den heutigen Tag populär geblieben ist. Es handelt sich dabei um ein Präparat der menschlichen Muskulatur, ausgeführt an der Leiche eines Kindes, das in Paris angefertigt und 1723 für die Herzogliche Sammlung angekauft wurde. Johann George Keyssler, dem wir eine ausführliche Beschreibung der Gothaischen Kunstkammer verdanken, beschreibt es 1742 bei den Sammlungen auf dem Friedenstein: »ein Cörper mit seinen Senen und Arterien sehr zart ausgesprützet «. Anatomische Kabinette waren zu Beginn des 18. Jahrhunderts verbreitet und Ausdruck eines regen Interesses an Naturerkenntnis zu einer Zeit, als die biologische und medizinische Naturforschung erst begann. In ihnen hatten Muskel- und Gefäßpräparate sicherlich einen besonderen Stellenwert. Sie waren in den Sammlungen wahrscheinlich weiter verbreitet, als es heute erkennbar ist. Sie dienten dem Studium der menschlichen Anatomie, der Wissensvermittlung im Medizinstudium und waren auch interessierten Laien zugänglich. Unser anatomisches Trockenpräparat überlebte die Jahrhunderte, obwohl es zwischenzeitlich auch schon als überholt und wertlos galt. Heute stellt es ein sehr seltenes Dokument der Wissenschaftsgeschichte dar. Darin besteht sein tatsächlicher Wert. Der Volksmund erfand zu unserem Präparat jedoch eine andere Geschichte, an der nichts wahr ist, die aber,weil ungewöhnlich und spannend, gern geglaubt und überliefert wurde. Ihr zufolge half vor langer Zeit der Lehrling eines Schlotfegers (Schornsteinfegers) beim Säubern der vielen Kamine des Schlosses Friedenstein. Der Knabe habe dazu auch in die Schlote steigen müssen. Dabei sei er hängen geblieben und habe sein Leben verloren. Der Rauch habe mumifizierend gewirkt und zur Konservierung der Muskulatur geführt. Erst nach Jahrzehnten wiederentdeckt, habe man ihn zur Aufbewahrung in die Sammlung des Herzogs gebracht. Wer sich das ausdachte, ist unbekannt. Es muss jedenfalls zu einem Zeitpunkt gewesen sein, als das Wissen um das Präparat in Vergessenheit geraten war und der Fantasie keine Grenzen mehr setzte. [Rainer Samietz]