Schwarz-Weiß-Fotografie einer leicht seitlich porträtierten Frau, die vom Kopf bis zur Hüfte sichtbar ist. Sie trägt ein Kleid, das die Schultern frei lässt, an den Ärmeln hat es Schleifen, am Bauch wird es mit einem Gürtel oder einer Schärpe zusammengehalten. Am Hals der Abgebildeten hängt eine lange Kette. Die Person ist vor einem neutralen Hintergrund abgebildet, die Hände ruhen vermutlich auf den Oberschenkeln. Den Kopf hat sie leicht gedreht, sodass sie die die Betrachtenden direkt ansieht.
Kontext:
Von der abgebildeten Person heißt es, dass sie sich 1876 infolge „Nahrungssorgen“ das Leben nahm (vgl. Hirschfeld: Geschlechtsübergänge, Text vor Tafel XIV). Der Gynäkologe Franz Ludwig Neugebauer fügte hinzu, dass sie öffentlich zur Schau gestellt wurde (vgl. Neugebauer: Hermaphroditismus beim Menschen, S. 653).
Das Porträt wurde in der zeitgenössischen Literatur zumeist im Kontext sog. „Bartfrauen“ bzw. „Bartdamen“ oder „feminae barbatae“ abgebildet. Auch Magnus Hirschfeld, Sexualwissenschaftler und Sexualreformer nutzte Abbildungen von „bärtigen Frauen“ in seiner Publikation „Geschlechtsübergänge“ im Kapitel „Androtrichie. Feminae barbatae.“ Dort schreibt er: „Zu den häufigsten und augenfälligsten Geschlechtsübergängen gehören die der Behaarung, einem […] besonders wichtigen sekundären Geschlechtscharakter.
Um sich von der Häufigkeit des „Frauenbartes" eine Vorstellung zu machen, ist es nur nötig, die Annoncenteile der Zeitungen zu durchsehen. Ich sammelte einige Wochen die Inserate, in denen die Entfernung weiblicher Barte mittelst Elektrolyse, Enthaarungswassern, Depilatorien und anderen Methoden angepriesen wird und fand, daß sich in Berlin Dutzende von Personen diesem anscheinend recht einträglichen Erwerbszweig widmen.“ (vgl. Hirschfeld: Geschlechtsübergänge, Text vor Tafel XIV)
Bilder von „Frauen mit Bärten“ waren Teil der Bilderwand „Sexuelle Zwischenstufen“, die vermutlich zum ersten Mal 1922 auf der „Hundertjahrfeier deutscher Naturforscher und Ärzte“ in Leipzig gezeigt wurde. Der Gründer des Instituts Magnus Hirschfeld wollte mit der Bilderwand seine um 1910 vorgelegte „Zwischenstufentheorie“ veranschaulichen und untermauern.
Sehr verkürzt gesagt, beschreibt das Konzept der Zwischenstufen die Tatsache, dass jedes Individuum sowohl „männlich“ als auch „weiblich“ ausgeprägte Eigenschaften vereint, die einen oder mehrere der vier Bereiche betreffen können: 1. die Geschlechtsorgane, 2. sonstigen körperlichen Eigenschaften, 3. den Geschlechtstrieb und/oder 4. sonstigen seelischen Eigenschaften.
Mit diesem Konzept verlagerte Hirschfeld bereits 1907 das biologisch-genitale Geschlecht hin zu einem, das u. a. auch auf der erlebten Identität beruhte. Damit ebnete die „Zwischenstufentheorie”, die „während der Institutszeit die wissenschaftliche Leitidee für die meisten Mitarbeiter“ blieb, den Weg für das Verständnis von sexueller Vielfalt und Variabilität. (vgl. Herrn, R. (2022): Der Liebe und dem Leid, Suhrkamp, S. 31). Einher ging damit auch eine Entpathologisierung und Entkriminalisierung des vermeintlich Abweichenden, von Menschen also, die außerhalb der gesellschaftlichen Norm standen.