Das Vesperbild, dessen Ursprung bei den um 1300 aufkommenden Andachtsbildern zu finden ist, verdeutlicht eine neue religiöse Verinnerlichung und Vertiefung, die aus der mystischen Frömmigkeit hervorging. Befördert durch die Lehren und Predigten Meister Eckharts (um 1260 bis ca. 1328) begann jeder sich als Geschöpf Gottes zu sehen und fing an, private Andachten zu halten. Das führte in der Kunst zur bildlichen Trennung von Ereignissen aus der Passion Christi oder dem Marienleben. Es entstanden Einzelwerke wie die "Beweinung Christi", "Anna Selbdritt" oder die Schutzmantelmadonna, die meistens in den Seitenkapellen für die stillen Gebete Aufstellung fanden.
Die Plastik der von Schmerz erfüllten Maria mit dem toten Christus gehört zur bewegendsten Darstellung der mystischen Bildschöpfung. Die Trauer der Mutter zwischen Kreuzabnahme und Grablegung, zur Zeit der Vesper, verdeutlicht jedoch nicht nur die Grausamkeit des Todes, sondern auch die Erlösung. Das hier abgebildete Vesperbild zeigt Maria in schmerzvoller Versunkenheit mit dem kindhaft kleinen Christus. Die Mutter selbst sitzt auf einer Bank, Christus liegt diagonal treppenförmig gebrochen auf ihrem Schoß. Auf seinem nach hinten gesunkenen Kopf befindet sich die Dornenkrone, und zwischen seinen Rippen ist die Herzwunde dargestellt. Christi rechter Arm, der wahrscheinlich herabhing, sowie seine Füße fehlen an dieser Skulptur. Ebenso sind von der ehemaligen Bemalung nur noch Reste vorhanden. Das Gewand der Maria war ursprünglich rot, ihr Umhang dagegen außen weiß und innen blau. Ebenfalls weiß war das Lendentuch des Gekreuzigten.
Bisher konnte leider nicht genau geklärt werden, wann und woher die Plastik in das Museum gelangte. Einer Anfang des 20. Jahrhunderts niedergeschriebenen Notiz zufolge scheint das Vesperbild aus der Kirche zu Beutelsdorf zu stammen. Jenes Dorf liegt ca. 9 km südwestlich von Kahla und war Sitz verschiedener Adelsgeschlechter. Die Kirche, die 1602 auf einem gotischen Vorgängerbau errichtet und 1837 erneuert wurde, beherbergte noch 1888 Kruzifixe und Vesperbilder aus der Zeit der Gotik. So liegt die Vermutung nahe, daß neben dem Beutelsdorfer Kruzifix, das in die Sammlung des Museums integriert wurde, auch die Pietá aus jener Kirche in die Heidecksburg kam. [Doreen Winker]
weitere Literatur: Isolde Lehmann-Schröder: Eine mittelalterliche Plastik in den Staatlichen Museen Heidecksburg, in Rudolstädter Heimathefte 3(1957)p. 131ff.