Der Rechtsgelehrte Rudolf von Gneist (1816–1895) war in Berlin als Jurist und Politiker tätig und gilt als Mitbegründer der deutschen Staatsrechtswissenschaft. Er forderte eine liberale Gesellschaftsreform in Preußen und setzte sich für eine kommunale Selbstverwaltung nach englischem Vorbild ein. 1888 wurde er mit dem Orden Pour le Mérite der Friedensklasse ausgezeichnet. Fünf Jahre nach seinem Tod beschloß die Landeskunstkommission, ihn mit einem Porträt in der Bildnissammlung der Nationalgalerie zu ehren. Der Auftrag für das Porträt fiel im März 1900 an Reinhold Lepsius, der es im Juli 1902 mit passendem Rahmen in der Nationalgalerie ablieferte.
In Abkehr von der klassischen Tradition der Gelehrtenporträts verzichtete Lepsius auf die Wiedergabe von Attributen, die dem Leser Profession und Verdienst des Dargestellten entschlüsselt hätten. Hintergrund und Anzug sind nur angedeutet. Der weiße Kragen, unter dem der Friedensorden aus dem Revers hervorspitzt, rahmt das Gesicht, dem die ganze Aufmerksamkeit des Künstlers galt. Ziel war Lepsius die psychologische Durchdringung des Dargestellten, und doch schrieb Max Liebermann rückblickend: »Lyrismus ist der Grundzug seines Talents und seines Charakters, daher sein Fernhalten von jedem Unterstreichen der Charakteristik, manchmal sogar bis zur Vernichtung der charakteristischen Form« (Nachruf auf R. Lepsius, in: Frankfurter Zeitung, 14.3.1922). | Regina Freyberger
1902 Ankauf nach Bestellung für die Bildnissammlung
SIGNATUREN UND INSCHRIFTEN
Bez. links unten: R. von GNEIST / † 1895 / R. LEPSIUS pxt / 1902
AUSSTELLUNGEN
– Pour le mérite. Vom königlichen Gelehrtenkabinett zur nationalen Bildnissammlung, Berlin, Alte Nationalgalerie, 26.5.-10.9.2006
LITERATUR
– Ausst.-Kat. Berlin 2006: Pour le mérite. Vom königlichen Gelehrtenkabinett zur nationalen Bildnissammlung, Ausst.-Kat. Alte Nationalgalerie, Berlin, 26.5.-10.9.2006, S. 88 f., Kat.-Nr. 21 mit Farbtaf.
– Dorgerloh 2003: Annette Dorgerloh, Das Künstlerehepaar Lepsius. Zur Berliner Porträtmalerei um 1900, Berlin, Akademie, 2003, S. 164, Farbtaf. 14
– Jordan 1876: Max Jordan (Hrsg.), Beschreibendes Verzeichniß der Kunstwerke in der Königlichen National-Galerie zu Berlin / Katalog der Königlichen National-Galerie zu Berlin / Verzeichnis der Gemälde und Skulpturen in der Königlichen National-Galerie zu Berlin / Verzeichnis der Gemälde und Bildwerke in der National-Galerie zu Berlin, Berlin 1876, 1907-1911, Kat.-Nr. 833
– Nationalgalerie 1996: Die Gemälde der Nationalgalerie, München 1996 (CD-ROM)
– Nationalgalerie 1999: Nationalgalerie. Gesamtverzeichnis der Gemälde und Skulpturen, München 1999 (CD-ROM)
– Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie 1986: Die Gemälde der Nationalgalerie. Verzeichnis. Deutsche Malerei vom Klassizismus bis zum Impressionismus. Ausländische Malerei von 1800 bis 1930, hrsg. v. Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Berlin 1986, o. S.
– Thieme/Becker 1907-1950: Ulrich Thieme und Felix Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Leipzig 1907-1950, Bd. 23, 1929, S. 107
– Wesenberg/Verwiebe/Freyberger 2017: Malkunst im 19. Jahrhundert. Die Sammlung der Nationalgalerie, hrsg. v. Angelika Wesenberg, Birgit Verwiebe und Regina Freyberger, Petersberg, Imhof, 2017, S. 518 mit Abb.
– Zentralarchiv SMPK div. Jahre: Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin. Hauptabteilung (HA) I: Archiv der Nationalgalerie (unveröff.), Acta Spec. Reinhold Lepsius, Bl. 238