In diesem Entwurf einer figurierten Initiale greift Israhel van Meckenem auf eine graphische Vorlage des Meisters E. S. zurück, auf den Kupferstich der Verkündigung an Maria (L. 8). Eingefasst in ein aufrecht stehendes, strenges Oval, öffnet sich der Blick in die sorgsam geschilderte Stube der heiligen Jungfrau. Am Lesepult unter dem Fenster kniend, wendet sie sich zum herannahenden Engel um und vernimmt die Botschaft, während von rechts oben der Strahl der Empfängnis auf sie niederfährt. Gerahmt wird diese Schilderung von einer reich ornamentierten Buchstabenform der Majuskel ›D‹. Fleischige Akanthusranken stehen vor dunkel schraffiertem Grund und lassen in der Mitte der beiden aufrechten Züge mit Blüten besetzte Medaillons frei. In der detaillierten Schilderung der Verkündigung steht die Komposition in der Tradition der historisierten Initialen der Buchmalerei. Und tatsächlich wurde der Kupferstich in diesem Sinne verwendet. Max Lehrs nennt in seinem Werkverzeichnis insgesamt sechs bekannte Exemplare des Drucks, von denen drei, den Buchstabenkonturen folgend ausgeschnitten, tatsächlich aus Handschriften stammen, in die sie als Initialen eingeklebt worden waren. Einige davon ließen sogar das Namenszeichen Israhels unter dem Buchstaben stehen.
Text: Michael Roth, in: Schrift als Bild, hg. von Michael Roth, Petersberg, 2010, S. 83, Kat. 59 (mit weiterer Literatur)