Die künstlerische Laufbahn Gramattés hatte im Krieg begonnen, als er – aufgrund eines chronischen Knochenleidens zeitweise vom Wehrdienst befreit – anfing, Kunst zu studieren. 1920 war ein ereignisreiches Jahr für ihn: Ferdinand Möller richtete ihm in seiner Berliner Galerie eine erste Werkschau ein, der Ausstellungen in Hamburg folgten. Dort lernte der Maler auch Rosa Schapire (1874–1954) kennen, die 1904 in Heidelberg als eine der ersten Frauen in Kunstgeschichte promoviert hatte. Ab 1905 lebte sie, die aus einem vermögenden jüdischen Elternhaus stammte, in Hamburg und wurde zu einer bedeutenden Mäzenin der Künstlergruppe Brücke. Schapire veröffentlichte einen Aufsatz über Gramattés Werk im „Cicerone“ und blieb bis zu seinem frühen Tod seine Förderin und enge persönliche Vertraute. Das „Porträt Rosa Schapire“ entstand Ende August 1920 in Malente-Gremsmühlen, einem Kurort in der Holsteinischen Schweiz, in dem Gramatté und seine Frau Sonia gerade ihre Ferien verbrachten. Elegant in Weiß gekleidet, geschmückt mit Kette und Rose am Ausschnitt sitzt Schapire in klassisch melancholischer Pose im Lehnstuhl, die Finger der linken Hand an Mund und Wange gelegt. Der fragend-kritische Blick ihrer großen dunklen Augen verrät den Respekt des Malers vor der Kunstkennerin. Weißhaarig, knochig und ernst wirkt sie älter und schmaler, als sie damals war. Der blaue Hintergrund ist durchzogen vom sphärischen rot-gelben Leuchten eines Sonnenuntergangs über einem großen Gewässer (vermutlich der Dieksee); die Zacken der Wellen auf der Wasseroberfläche führen die wellenförmige Borte von Schapires Kleid fort. | Christina Thomson