Es gab Zeiten, da das Lesen von Romanen und Gedichten als verwerflich galt, ja, in manchen Schichten ist diese Auffassung noch heute nicht überwunden. Da es die Fantasie überspannen konnte, galt es überdies vielfach als bedenklich. Bei den Damen konnte hinzukommen, dass sie über die Lektüre ihre Pflicht vernachlässigten, wie die von dem Meißner Modelleur Kaendler nach einer Komposition des Jean Baptiste Siméon Chardin (‘Les amusements de la vie privée’, 1746, Stockholm, Nationalmuseum) modellierte Darstellung mit dem Nebeneinander von Spinnrocken und im Sessel zurückgelehnter Dame, die mit schwärmerischem Blick der Lektüre nachsinnt, deutlich macht. Die Komposition gibt einem Reizthema der Aufklärung Ausdruck, der weiblichen Lektüre.
In der vorliegenden Ausformung aus dem 19. Jahrhundert ist dem Buchdeckel ein Kreuz eingeprägt. Damit gibt die Figur ein Bild biedermeierlich-tugendhafter Frömmigkeit, womit das Konfliktpotential der Bilderfindung entschärft und die Sinnlichkeit sowie die Wertschätzung des Plaisiers im Rokoko völlig verkannt ist. Ein Herz statt des Kreuzes auf dem Buchdeckel im Falle einer anderen Ausformung etwa derselben Zeit (Van Ham, Auktion 371. Europäisches Kunstgewerbe, 14.05.2016, Los 1178) ändert alles.
Marke: Schwerter Meissen, blaue Schwertermarke Unterglasur, 19. Jahrhundert, Modellnummer 2685, Bossierernummer 43