Eine weitere Geschichte, die den Europäern das Gruseln lehren sollte und die zur Konstruktion der Alterität der Inder beitrug, war die Witwenverbrennung, der sati. Bei einigen höheren Kasten der Hindus, vor allem in den Kshatria-Kasten (Kriegerkasten), wurde von den Ehefrauen verstorbener Männer erwartet, dass sie diesen freiwillig in den Tod folgten. In der Regel geschah das, indem sich die Witwen auf den brennenden Scheiterhaufen stürzten, auf dem die Leiche ihres Mannes lag. Die hier im Bild dargestellte Version ist eine andere. Die Frau liegt zärtlich neben der Leiche des Mannes auf dem Scheiterhaufen, während die Flammen seitlich hervorschlagen. Eine Gruppe von Männern, Verwandte der Frau, zeigen Gebärden der Trauer und Verzweiflung, während die Frau am linken Bildrand zufrieden auf die noble Tat ihrer Schwester hinweist. Wir kennen Dokumente aus Tanjore aus jener Zeit, die darüber berichten, dass Frauen aus der Herrscherfamilie, deren Männer gestorben waren, den Vorschlag, sich dem Brauch der Selbstverbrennung zu entziehen, empört zurückwiesen und darauf beharrten, ihrem Ehemann in den Tod zu folgen.
Das Wort sati leitet sich vom Sanskrit-Wort satja ab und bedeutet »Frau, die den richtigen, mutigen Weg wählt«. In den heiligen Büchern des Hinduismus wird sati nicht erwähnt oder gar vorgeschrieben. Es gibt also keine religiöse Grundlage für diesen Brauch, der in Südindien weitgehend unbekannt war. Angeblich wurde die Witwenselbstverbrennung durch das Volk der Kushan in Indien eingeführt und dort verstärkt durch die Rajputen praktiziert. Im Jahr 1829 wurde die Witwenverbrennung von den Briten verboten, was nicht zur sofortigen Beendigung des sati führte. Man muss aber nicht vermuten, dass sati ein weit verbreiteter Brauch war. Es handelte sich dabei um Ausnahmen - jedoch um besonders spektakuläre und grausame. (Werner Kraus)