Dieses Blatt aus aus der Alphabetfolge des Meisters E. S. gehört zu den eindringlichsten bildlichen Schilderungen des zügellosen Treibens geistlicher Stände im 15. Jahrhundert. Obgleich sich der Meister E. S. damit gewissermaßen auf vertrautem Gebiet befand, da er schon in seinem großen Liebesgarten (L. 215) ähnlich drastische Bildformulierungen zeigte, griff er kompositionell und inhaltlich wiederum auf Anregungen des Taccuino di disegni aus der Werkstatt des Giovannino de Grassi zurück. Ebenso wie dort wird der Buchstabe von einer Personengruppe in unflätiger Aktion beherrscht, nämlich durch drei Mönche, darunter einem mit entblößtem Gesäß und Gemächt, und einem, der einen anderen grinsend mit dem Inhalt einer Urinflasche übergießt. Beim Meister E. S. sind die Mönche allerdings durch Schellen an den Kutten als Narren bezeichnet. Diese Aktion ist vom rechten Balken bei Giovannino auf den linken beim Meister E. S. gewandert. Auch die Blickverbindung einer Figur vom gegenüberliegenden Balken auf die Mönchsszene ist im älteren Figurenalphabet bereits vorgebildet. Ganz anders hingegen die Aktion auf dem rechten Balken: Unter den Augen eines älteren Mönches mit Augengläsern geißelt hier eine junge Frau einen mit entblößtem Gesäß vor ihr knienden Mönch, während dieser seine lange Zunge lüstern und mit verzücktem Blick in den Schnabel eines am Boden liegenden Vogels steckt.
Text: Michael Roth, in: Schrift als Bild, hg. von Michael Roth, Petersberg, 2010, S. 78, Kat. 48 (mit weiterer Literatur)
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