Obwohl es bereits in der Spätantike entstanden ist, muß die Darstellung auch den Christen des Klosters noch etwas bedeutet haben. Denn es ist offenbar im 5. oder 6. Jahrhundert n. Chr. ausgebessert worden. In der Spätantike hatte eine auf Orpheus zurückgeführte Geheimlehre, die Orphik, viele Anhänger. Ihre Grundsätze ähnelten denen des Christentums. Bischof Eusebius von Caesarea (um 260–399 n. Chr.) verglich sogar die Wirkung der Musik des Orpheus auf die menschliche Seele mit der des Wortes Gottes. Der Typus des ‚Orpheus unter den Tieren‘ wurde von der christlichen Kunst übernommen, um Christus als ‚Guten Hirten‘ darzustellen.
Die Angleichung des musizierenden Orpheus an die Thematik des sogenannten Hirtengenres – wie sie besonders in der römischen Sarkophagkunst des späten 3. Jahrhunderts n. Chr. zu finden ist – hat nichts mit einer Christianisierung zu tun. So sind beispielsweise auch Deutungen des Orpheus als Christusbild auf Sarkophagen und in der Katakombenmalerei mit Vorbehalt zu betrachten. Die Literatur der Kirchenväter enthält in erster Linie Gegenüberstellungen als Vergleiche zwischen Orpheus und Christus. Die vielfältigen Beziehungen zwischen Orpheus und Christus machen es verständlich, daß das Bild des Sängers im Kloster belassen wurde. (AVS)