Bei Bock/Friedländer ist diese Zeichnung noch - wenn auch mit Vorbehalt - unter den Deutschen verzeichnet und gegen 1400 datiert. Forschungen der letzten beiden Jahrzehnte haben deren französischen Ursprung sowie eine wesentlich frühere Entstehungszeit plausibel gemacht. Über die qualitative Wertung bestand immer Einigkeit. Sowohl die kompositorische Anlage als auch die Feinheit von Formen und Details sprechen für einen außerordentlich hochrangigen Künstler, den man heute unter den Buchmalern am französischen Hofe, im Umkreis des sog. Meisters des »Remède de Fortune« sucht. Dargestellt sind zwei symmetrisch angeordnete höfische Paare, die in Haltung und Gestik aufeinander bezogen sind. Der männliche Part nimmt jeweils die Außenseite ein. Die junge Dame der linken Gruppe hält in ihrer rechten Hand einen Kranz. Ihr modisch gekleideter Partner, der gelockte Haare und einen geteilten Bart trägt, ist bereits fortgeschritteneren Alters. Die Schöne der rechten Gruppe -mit unvollendeter Zopffrisur - kämmt sich im Beisein des ihr zugesellten jungen Mannes die noch offenen Haarsträhnen. Dieser kniet in unterwürfiger Pose vor ihr und will dem auf seinem freien Knie abgestellten, geöffneten »Minnekästchen« etwas entnehmen. Vermutlich handelt es sich um einen überraschend eingetroffenen Boten, der Briefe oder ähnliches zu überbringen hat. Das Blatt galt lange als eine der wenigen erhaltenen autonomen Zeichnungen des 14. Jahrhunderts. Neuere Forschungen Byrnes lassen jedoch die Möglichkeit eines eventuellen Zusammenhanges mit einer Handschrift zu, für deren Illustration es bestimmt gewesen sein kann. Byrne brachte unsere Zeichnung mit einer Textstelle aus Guillaume de Machauts »Livre du Voir-Dit« (um 1363-65) in Verbindung, die von ihm - vielleicht etwas vorschnell - als direkte literarische Vorlage angesehen wird. Dementsprechend deutete er die drei Hauptfiguren als Dichter Machaut, dessen Geliebte »Toute Belle« und als die mit ihr im Text verglichene antike Königin Semiramis.
Sigrid Achenbach in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, 2. Aufl., Berlin 1994, S. 305, Kat. VI.1 (mit weiterer Literatur)
Entstehungsort stilistisch: Frankreich
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