Im Verlaufe von Bauarbeiten stieß man 1948 in der Ortschaft Ingersleben auf frühgeschichtliche Siedlungsgruben und Bestattungen. Leider konnte die Fundstelle erst einige Wochen später durch einen Archäologen untersucht werden. Die Ausgrabung der erhaltenen Befunde ergab dennoch aufschlussreiche Erkenntnisse. Während das west-ost-orientierte Grab 1, die Bestattung eines Kindes von ca. 9 - 10 Jahren, noch untersucht werden konnte, waren zwei weitere Gräber schon so stark zerstört, dass nur noch die Inhalte geborgen werden konnten. Dabei fand sich im zweiten Grab ein Skelett mit künstlich deformiertem Schädel. Als Grabbeigabe ließ sich ein Drehscheibengefäß zuordnen. Die doppelkonische Terrine mit scharfem, facettiertem Umbruch soll links vom Kopf gestanden haben. Das für Thüringen typische Drehscheibengefäß datiert den Befund in einen Zeitraum von der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts bis an den Beginn des 6. Jahrhunderts. Nach der anthropologischen Analyse des Skelettes handelt es sich bei der bestatteten Person um einen Erwachsenen europäischer Herkunft im Alter zwischen 30 und 35 Jahren. Die Bestimmung des Geschlechts war nicht zweifelsfrei möglich. Nach Ansicht des Bearbeiters handelt es sich mit 70 % Wahrscheinlichkeit um einen Mann. Aus archäologischer Sicht dürfte es sich allerdings eher um eine weibliche Person handeln, da in Mitteldeutschland für die Völkerwanderungszeit sonst nur Frauen mit deformierten Schädeln bekannt sind. Die künstliche Deformation des Schädels betrifft vor allem das Stirnbein und die Scheitelbeine. Damit ist von einer fronto-occipitalen (zirkulären) Deformation auszugehen. Dem Säugling wurde der Kopf mit Hilfe von Binden oder Hauben derart bandagiert, dass die Schädelkapsel im vorderen oberen und hinteren unteren Bereich im Wachstum gehemmt und zum Ausgleich im hinteren oberen Abschnitt im Wachstum gefördert wurde. Im Ergebnis ist der Schädel deutlich höher als normal und in seinen Poportionen nach hinten verschoben. Die Sitte der Schädeldeformation ist schon in prähistorischer Zeit bei Männern und Frauen bekannt. Relevante Beziehungen zu dem besprochenen völkerwanderungszeitlichen Vorkommen sind ab dem 5. Jahrhundert vor der Zeitrechnung in Mittelasien fassbar. In den Steppengebieten zwischen dem nördlichen Schwarzen Meer, Kaspisee und nördlichem Kaukasus war die Sitte der Schädeldeformation im steppennomadischen Kontext während des 3. Und 4. Jahrhunderts fest verankert. Die Verbreitung der Erscheinung in Mittel- und Westeuropa im Verlaufe des 5. Jahrhunderts stand im engen Zusammenhang mit der Ausbreitung der Hunnen von ihrem donauländischen Siedlungsgebiet nach Westen und der Einbeziehung germanischer Stämme in den hunnischen Verband. Dabei ist der Anteil und der Einfluss sarmatischer und alanischer Elemente nicht zu unterschätzen. Krieger des um 400 erstmals erwähnten Stammesverbandes der Thüringer nahmen 451 als Verbündete der Hunnen an der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern teil. Im Verlaufe des danach einsetzenden Zerfalles des Hunnenreiches erlosch die Sitte der Schädeldeformation in Mitteleuropa rasch. Bei den Thüringern entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts ein Stammeskönigtum, und Anfang des 6. Jahrhunderts das Reich der Thüringer zu einem bedeutenden Machtfaktor in Mitteleuropa. Über die konkreten Beweggründe, die zur künstlichen Schädeldeformation bei den Thüringern geführt haben, kann trotz aller bekannten Parallelen und Herkunftsbeziehungen nur wenig ausgesagt werden. Da die Entscheidung über die Ausführung der Schädeldeformation unabhängig vom Willen der betroffenen Person getroffen wurde, sollten tieferliegende Ursachen als Modeerscheinung oder Schönheitsideal in Erwägung gezogen werden. Im steppennomadischen Ursprungsgebiet spielten ethnisch determinierte Gründe wohl eine entscheidende Rolle. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei den germanischen Funden jedoch um Einzelerscheinungen innerhalb kleiner Friedhöfe. Es fehlen Kriegergräber oder besonders reich ausgestattete Gräber. Als deutliches Kennzeichen für die Zugehörigkeit zu einem sozial herausragenden Stand (Stammesadel) kann künstliche Schädeldeformation daher nicht gewertet werden. In Thüringen erstreckte sich die Sitte nach bisherigem Kenntnisstand darüber hinaus nur auf Frauen, wobei neben europiden auch mongoloide Individuen nachgewiesen wurden. Ganz offensichtlich gab es eingeheiratete asiatische Frauen. Das alles belegt eine enge Einbindung von Personen und Familien aus dem Stammesverband der Thüringer in das Machtgefüge der Hunnen. Doch war das ebenso offensichtlich keine allgemeine Erscheinung. So ist es gut vorstellbar, dass sich für die Germanen mit der Sitte der künstlichen Schädeldeformation ganz andere Inhalte als im steppennomadischen Kontext verbanden. Möglicherweise war es für einzelne germanische Familien Manifestation für besonders enge Beziehungen zum Hunnischen Reich. [Thomas Huck]
weitere Literatur: Hermann Kaufmann: Altthüringer Gräber auf Siedlungsstätten in Ingersleben, Kreis Erfurt, in: Alt-Thüringen 1 (1955), S. 255-264 • Dietrich Drost: Die Skelettfunde von Ingersleben, in: Alt-Thüringen 1 (1955), S. 265-272
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