Anekdote | Arnold Widding | Fleißkärtchen | 1941
Leni war nicht gerade eine Leuchte in der Schule. Deshalb half ihr die Oma zu Beginn des zweiten Schuljahres immer bei den Hausaufgaben. Manchmal, um Leni zu helfen und um Zeit zu sparen, kratzte sie auch selbst mit dem Griffel Wörter und Sätze auf die Schiefertafel. (Vor, während und nach dem zweiten Weltkrieg hatten die Erst- und Zweitklässler noch alle eine Schiefertafel.)
Eines Tages, so gegen Mittag, lehnte Oma im offenen Fenster und schaute die Straße hinauf und hinunter. Die Schule war aus, und da erschien auch schon Leni mit dem Ranzen auf dem Rücken. Schon von weitem rief sie der Oma lauthals entgegen: "Oma, ich hab ein Fleißkärtchen bekommen!" Diese Auszeichnung verteilte die Lehrerin, Fräulein Resch, als Belohnung und als Ansporn hin und wieder für besondere Leistungen an ihre Schüler.
"Oma, ich hab ein Fleißkärtchen bekommen!", rief Leni unaufhörlich über die Straße. Und die Oma antwortete sichtlich erfreut mit lauter Stimme, damit auch die Nachbarschaft die frohe Botschaft hören sollte: "Ein Fleißkärtchen! Kind, da kannst du aber stolz drauf sein. Ein Fleißkärtchen!" Doch die kleine Leni rief zurück: "Das Fleißkärtchen ist nicht für mich! Das ist für dich, hat das Fräulein gesagt!"
Da machte Lenis Oma schnell das Fenster zu und ward nicht mehr gesehen.
[Quelle: Wahre Tatsachen | Anekdoten, Arnold Widding]
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