Der fast quadratische Ausschnitt aus einem großen Chorbuch mit der qualitätvollen Rankeninitiale auf Goldgrund lässt gerade noch Reste der
Notensysteme erkennen. Auch auf der Rückseite stehen Noten. Nur wenige Buchstaben blieben erhalten; doch sie genügen, um den Text – und
damit auch den Buchtyp – zu erschließen: »Aspiciens a longe, ecce video dei potentiam …«: Das erste Responsorium der Matutin am ersten Adventssonntag, mit dem gewöhnlich das Antiphonarium officii beginnt, bringt die Hoffnung der Gläubigen auf die Ankunft des Heilands zum Ausdruck.Es ist der Antwortgesang auf die Lesung aus dem Propheten Jesaja, dessen Visionen die Adventsliturgie prägen. Darum darf man in der bärtigen Gestalt auf dem Thron diesen großen Propheten des Alten Bundes erkennen, auch wenn sein Schriftband leer geblieben ist. Blick und Zeigegestus lenken die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Anfangsworte, so als wollte er sagen: »Ich schaue von Weitem, und siehe, ich erblicke die kommende Größe Gottes.« Die bedrohlichen Drachen, die sich im Rankengeflecht verbeißen, scheint er nicht wahrzunehmen. Fünf solche Fabeltiere hat der Buchmaler wie in einem Suchbild versteckt. Die drei Vögel am linken Rand gibt er mit Liebe zu anatomischen Details wieder.
Text: Beate Braun-Niehr, in: Schrift als Bild, hg. von Michael Roth, Petersberg, 2010, S. 30, Kat. 13 (mit weiterer Literatur)
Entstehungsort stilistisch: Westdeutschland
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