»Die Anbetung der Hirten« ist eines der geläufigsten und häufig kopierten Werke Bassanos. Von Jacopos eigener Hand stammen mehrere Varianten. Dazu gehört auch das Berliner Blatt. Es zeigt auf der Vorder- und Rückseite jeweils abgewandelte Fassungen einer großen gemalten Komposition von 1568, die sich heute im Museo Civico zu Bassano del Grappa befindet [...].
Ungleich dramatischer als auf dem Gemälde sind die Gestalten von Maria und Joseph links sowie der Hirten rechts angelegt: Sie wenden und neigen sich aus ihren momentanen Bewegungen - unterstrichen durch die wirbeligen >Kraftlinien< der skizzierenden Kreide - dem verschwindend kleinen und doch so hellen, anziehenden Zentrum zu, dem Kinde. Dieses Spiel mit Kontrasten zwischen arrondierten knienden und achsial bewegten Figuren, zwischen körperlicher Masse und dem bedeutungshaltigen Vakuum, zwischen der Aktion im nahen Vordergrund und der Ruhe des weit erschlossenen architektonischen Fonds führt uns nicht nur das experimentelle, modellierende Vorgehen der Zeichenkunst Bassanos vor Augen, sondern auch charakteristische Topoi der venezianischen Spätrenaissance. Und zwar anhand eines höchst qualitätvollen Beispiel, gehört doch die Berliner Zeichnung mit ihrem Recto und Verso nach der noch jüngeren Entdeckung eines Blattes des Getty-Museums zur kleinen Gruppe von nur sechs bekannten großformatigen Kompositionsstudien in farbiger Kreide [...].
Text: Hein-Th. Schulze Altcappenberg in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 269-270, Kat. V.31 (mit weiterer Literatur)
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