Der Erzengel Michael, der beim Jüngsten Gericht die Seelen wägt, wird in der »Offenbarung« des Johannes beschrieben als Überwinder des höllischen Drachens. Dieser Kampf ist von Schongauer nicht als dramatische Handlung beschrieben, sondern still, wie erstarrt in der Bewegung, in einem Augenblick, als jede Form ihre größte Schönheit entfaltet hatte, für sich und im Zusammenspiel des Ganzen. Kein Detail mag man verändert denken. Der Engel muß nicht kämpfen, seine Vollkommenheit ist unangreifbar: die scharf geschnittenen Flügel, die hellen, relativ glatten Gewandbahnen, vom erhobenen Arm über Brust und Knie hinab; damit kontrastierend das Gewirr beschatteter Falten, die vom Halbkreis seines Mantelsaums zu einer großen Form zusammengefaßt werden; die Diagonale der Lanze, vom Blick des Engels begleitet. Der Böse unter ihm ist so machtlos, daß seine vielfältigen Zangen und Schwanzwindungen nur ein interessanter Dekor der hoheitsvollen Engelgestalt scheinen. Ein Menschheitstraum.
Text: Hans Mielke in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 101, Kat. III.16 (mit weiterer Literatur)
de