Auf polygonalem Postament mit gekehlt vorspringender Platte oben und unten steht die schlanke Figur einer gekrönten weiblichen Heiligen, deren Identifizierung als Maria hier erstmals vorgenommen wird. Sie besitzt ein deutlich vorgesetztes rechtes Spielbein und eine stark ausschwingende linke Hüfte. In der erneuerten, fein geschnitzten linken Hand hält sie heute ein aufgeschlagenes Buch, ursprünglich dürfte sich hier das Christuskind befunden haben. In der ehemals angesetzten, verlorenen Rechten lag ein unbekannter Gegenstand; der 1930 noch vorhandene rechte Unterarm mit feiner Hand, die ein Zepter hielt, war eine spätere Ergänzung. Das Kind wird nicht quer über dem Oberkörper gelegen haben, da die Faltenpartien über dem Bauch gut ausgearbeitet sind, also sichtbar waren, und Marias rechte Hand ursprünglich nach vorn und nicht – wie es zur Stabilisierung der waagerechten Haltung des Kindes erforderlich wäre – nach innen gerichtet war. Vorstellbar ist eher eine Präsentation des Knaben über der linken Hüfte.
Als ursprüngliche Aufstellung kommt vor allem ein Altarretabel infrage. Die Figur ist ausgehöhlt und war sehr wahrscheinlich mit Rückbrett verschlossen. Als Madonna könnte sie im Zentrum eines Retabels gestanden haben, alleine oder von Heiligenfiguren flankiert.
Die ikonografischen Änderungen, die durch das Ersetzen der ursprünglichen Arme mit Attributen vorgenommen worden sind, könnten in Zusammenhang stehen mit einer rückseitigen breiten Abarbeitung am Nacken. Vereinzelt im späten Mittelalter und besonders häufig in der frühen Neuzeit ist die Aufstellung von Vesperbildern oder Madonnen am Fuße eines Kreuzes überliefert. Dabei wurden auch umfangreichere Korrekturen vorgenommen. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Berliner Madonna ebenfalls im 17. oder 18. Jahrhundert in eine Verkündigungsmaria oder Muttergottes unter dem Kreuz umgewandelt sowie mit Buch und Zepter ausgestattet wurde.
(Auszug aus: Tobias Kunz, Bildwerke nördlich der Alpen und im Alpenraum 1380 bis 1440. Kritischer Bestandskatalog der Berliner Skulpturensammlung, Petersberg, Michael Imhof Verlag 2019)
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