Wahrscheinlich wurde Kollwitz zu ihrem Thema durch die Lektüre von Charles Dickens´ Roman »A Tale of Two Cities« (Eine Geschichte zweier Städte, 1859, dtsch.1860) angeregt, der in Paris und London zur Zeit der Französischen Revolution spielt. »Die Carmagnole« ist ein Tanzlied der Französischen Revolution, das 1792 bei der Erstürmung von Camargnola in Piemont, vielleicht auch in Marseille aufgekommen sein soll und mit dem Refrain schließt: »Dansons la Carmagnole, vive le son du canon!« Man sang es unter den Fenstern des Temple und des Turms, wo Ludwig XVI. mit seiner Familie nach der Erstürmung der Tuilerien seit dem 10. August 1792 gefangen gehalten wurde.
Im Unterschied zur Radierung tragen die vorbereitenden Zeichnungen (vgl. Inv. Nr. 220-1912) noch den Titel »Tanz um die Guillotine«. Erst die Graphik bringt die Handlung auf den dramatischen Punkt und verleiht ihr durch die Zuspitzung der Gestik, die Eindunklung der Häuserschlucht sowie eine kompositorische Straffung jene herausfordernde Aggressivität, welche »Die Carmagnole« unabhängig vom dargestellten historischen Ereignis zum visionären Schreckensbild für das revolutionäre Potential sozial unterdrückter niederer Volksschichten werden ließ. In der Bewegung der barfüßigen, von Frauen beherrschten Volksmasse schwingt der zu dämonischer Wildheit gesteigerte Rhythmus des Tanzes, Die zerlumpte Kleidung sowie die abgehärmten, stumpfen Gesichter der Gruppe lassen das Ausmaß des Erlittenen und damit die Ursachen ihres Aufbegehrens erkennen. Verschlüsselt im historischen Sujet, kritisiert »Die Carmagnole« die miserablen sozialen Zustände der Wilhelminischen Zeit, enthält aber darüber hinaus auch den Appell zur aktiven Gegenwehr.
In ihrer ersten, von vielen als die wichtigste betrachteten Werkphase, die um 1890 beginnt und um 1910 endet, hat sich die Künstlerin häufiger mit dem Thema des Aufruhrs auseinandergesetzt. Vor und nach der Entstehung der Carmagnole steht es im Mittelpunkt ihrer bedeutenden Zyklen »Ein Weberaufstand« und »Bauernkrieg« (1893–98 bzw. 1902–08).
Text: Sigrid Achenbach in: Das Berliner Kupferstichkabinett. Ein Handbuch zur Sammlung, hg. von Alexander Dückers, 2. Auflage, Berlin 1994, S. 410f., Kat. VII.61 b (mit weiterer Literatur)
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