Der bisherige, sehr verbreitete Titel des Aquarells »Beuth, auf dem Pegasus reitend« stellt sich bei genauerer Betrachtung als irreführernd heraus. Es ist offensichtlich, dass Beuth nicht in personam dargestellt ist. Viel anspielungsreicher, brachte Schinkel eine anatomisch androgyn anmutende, mit Dutt, langen Wimpern und Ohrring eindeutig aber weibliche Allegorie zu Papier, eine ironische Figur, die eben die Inspirationskraft wie den Aktenfleiß, die realen wie zerplatzenden Visionen seines Freundes zu verbildlichen weiß – eine zeitgemäße Fortuna.
Im Vordergrund einer weiträumig angelegten Industrielandschaft mit blockartigen Fabriken, Hochöfen, rauchenden Schornsteinen und einem stark befahrenen Kanal mit Flussanbindung öffnet sich trichterförmig ein anderes Bild. Dessen Rand ist von einem Rauchkranz umgeben, der es als fiktive Einblendung ausweist. Der Blick wird in eine Ecke des Beuth’schen Arbeitszimmers mit Akten des Gewerbevereins und des Berliner Kunstvereins gelenkt, beleuchtet von einer Lampe im Scheitel des Ausschnitts. Nicht über der Landschaft, über diesem »Think tank« schwebt jene Seifenbläserin auf dem Rücken des Pegasus, der wie das Licht in der Kammer ein Symbol der Inspirationskraft ist. Als Ausgeburt des Geistes wirkt die allegorische Gruppe wie thermisch aus dem Aktenkessel emporgehoben – ein Motiv, das Schinkel aus dem sogenannten Pinetti-Theater gekannt haben könnte. Dort wurden unter dem Pächter Johann Carl Enslen ab 1796 u. a. »aerostatische Kunststücke« aufgeführt, darunter der »Reuter« auf dem Pegasus (Abb. in: Schulze Altcappenberg 2012). So schuf Schinkel mit dem Pegasus-Blatt ein Bild aus mehreren Zeit- und Quellenschichten von der antiken Mythologie bis zur Zukunftsvision, vom physikalisch-technischen Theater bis zur Seelenschau.
Text: Heinrich Schulze Altcappenberg (2012; nach dem Eintrag in Kat. Berlin Schinkel 2012)
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