Christus hängt mit leicht nach links gesenktem Haupt an einem nicht mehr vorhandenen Kreuz. Der schlanke Corpus mit einem nur knapp ausgearbeiteten Brustkorb wirkt stark überlängt; die Arme sind leicht angewinkelt, Hände und Finger kaum eingeknickt. Feiner geschnitzt ist der Kopf. Langes, gewelltes Haar, bei dem auf eine differenzierte Binnenzeichnung verzichtet wurde, und ein modischer halblanger Bart rahmen ein Gesicht voll schmerzhafter Trauer. Zusammengezogene Brauen, zwei Stirnrunzeln und nur halb geöffnete Augen genügen, um die seelische Verfassung knapp anzudeuten. Die Dornenkrone hat die Form eines gedrehten Taus und besaß ursprünglich angesetzte Dornen. Die nach vorn angewinkelten Beine scheinen verkürzt, ihre Schienbeine sind scharfgratig. Die Füße liegen übereinander, vertikal in der Achse der Beine und waren mit einem verlorenen Nagel am Kreuz befestigt.
Nur wenige hölzerne Bildwerke dieser Größe sind so eindeutig auf Untersicht gearbeitet. Dabei ist mit der unnatürlichen Überlängung des Bereichs zwischen Brustkorb und Hüfte, mit der verkürzten Darstellung der Beine, der Größe des Lendentuchs und dem gesenkten Haupt ein Betrachter einberechnet, der sich deutlich – vielleicht 1–2 m – unterhalb der Füße befindet und dem Gekreuzigten ins schön geschnittene Gesicht sehen kann. Von hier aus gleichen sich die Verzerrungen aus. Die flache Rückseite und besonders der nicht ausgearbeitete Nacken bestätigen dies. Es dürfte sich folglich kaum um ein Altar- oder ein Prozessionskreuz gehandelt haben, die aus großer Nähe und ohne Rückwand zu sehen gewesen wären.
Es gibt einige Beispiele aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts für eine solch extreme Unteransicht von szenischer Passionsdarstellungen, die es dem Betrachter ermöglichen sollte, direkt in das Antlitz Christi zu schauen (so Inv. 3140).
In den letzten Jahrzehnten ist die Echtheit des bislang wenig beachteten Werks in Zweifel gezogen worden. Stilistische Ungereimtheiten und die reduzierte Gestaltung der Oberfläche mögen diese Skepsis veranlasst haben. Die Fassungsbefunde zeigen aber, dass es sich durchaus um ein gekonntes mittelalterliches Werk handelt, aufschlussreich für die Arbeitsweise eines Bildschnitzers im 14. Jahrhundert.
Die Kleinteiligkeit der Falten und die Expressivität des Antlitzes des Kruzifix zeigen, dass das Berliner Werk wohl kaum im Limousin entstanden sein wird. Vielmehr lässt dessen Eleganz und Sparsamkeit der Binnenstruktur – wie auch die Größe – eher an Werke der Elfenbeinkunst denken. Die Gestaltung der Dornenkrone als gedrehtes Tau, die Länge, Knotung und das tiefe Herabhängen des Lendentuchs und die nur leichte Einknickung der Arme sind geläufige Motive Pariser Elfenbeinreliefs der Zeit um 1300.
(Auszug aus: Tobias Kunz, Bildwerke nördlich der Alpen. 1050 bis 1380. Kritischer Bestandskatalog der Berliner Skulpturensammlung, Petersberg, Michael Imhof Verlag 2014)
Entstehungsort stilistisch: Nordfrankreich
Entstehungsort stilistisch: Paris?
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