Maria sitzt auf einer kastenförmigen Thronbank, auf der ein flaches Kissen mit Quasten an den Ecken aufliegt. Die Füße ruhen auf einer unregelmäßig ausgebuchteten Plinthe, deren Kontur sich der Stellung der Füße bzw. dem Verlauf des Gewandsaums anzupassen und eine Erdscholle anzudeuten scheint. Maria trägt ein knapp unterhalb der Brust gegürtetes Kleid und einen Mantel, der über der Brust von einem Tasselriemen gehalten wird und sich über dem Oberkörper öffnet. Quer über ihren Schoß gelegt dient er dem Kind als zusätzliche Unterlage. Das über Marias rechte Schulter fallende Schleierende unter einer schmalen Krone ist quer über die Brust auf die andere Seite gelegt und wird – in einer fast übermütigen Bewegung – im nächsten Augenblick vom Kind herabgezogen werden. Der Knabe trägt ein Kleid mit rundem Ausschnitt, sein Haar ist lebendig gelockt. Beide Gesichter sind relativ breit und ebenmäßig. Während die Kontur der Muttergottes eher blockhaft wirkt und die Gliedmaßen kaum ausgreifen, ist die Binnenstruktur sehr lebendig. Ihre bewegte und unsymmetrische Haltung korrespondiert mit der des Kindes, das sich auf ihrem linken Oberschenkel aufrichtet, dreht und zu ihr aufblickt. So verändert sie die Position ihrer Oberschenkel als Reaktion auf dessen Bewegung: Die bei Marienbildern häufige lotrechte Stellung des linken Beins, der Sitzfläche des Kindes, wird aufgehoben, und das rechte Bein neigt sich herüber, um im nächsten Augenblick dem linken Fuß des Kindes als Standfläche dienen zu können. Auch der Griff der linken Hand um die Schulter des Kindes, der sich deutlich von dem eher statischen Halten des Gesäßes bei anderen Skulpturen dieses Themas unterscheidet, reagiert auf dessen Bewegung, indem er die Drehung zu unterstützen scheint. In der Tat richtet sich das Kind gerade aus einer zuvor sitzenden Stellung auf und dreht sich zugleich um die eigene Achse: Das linke Bein ist noch angewinkelt nach außen gerichtet, das rechte tritt bereits nach vorn auf die ausgestreckte Hand der Mutter, die linke Hand hält einen Apfel auf den Oberschenkel, die rechte greift an den Schleier, der Kopf dreht sich weit um, sodass das Kind direkt ins Gesicht der Mutter hinaufblicken kann. Allein schon durch den intensiven Blickkontakt von Mutter und Kind erhält die Skulptur einen sehr intimen Charakter.
(Auszug aus: Tobias Kunz, Bildwerke nördlich der Alpen. 1050 bis 1380. Kritischer Bestandskatalog der Berliner Skulpturensammlung, Petersberg, Michael Imhof Verlag 2014)
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