Im späten Mittelalter wurden viele Kirchen in Nordeuropa mit geschnitzten Retabeln geschmückt, die den Mittelpunkt für die an den Altären gefeierten Messen bildeten. Ein typischer Altaraufsatz bestand aus einem zentralen Schrein mit Flügeln, die geöffnet oder je nach dem liturgischen Kalender geschlossen werden konnten; der Schrein wurde durch einen Sockel - oder Predella - erhöht. Aller Wahrscheinlichkeit nach war dieses Relief ursprünglich Teil der Predella eines großen Altaraufsatzes, der der Jungfrau Maria gewidmet war. Die dargestellte Szene erscheint nicht in den Evangelien, sondern in apokryphen Texten, wie z.B. der Goldenen Legende, eine aus dem 13. Jahrhundert stammende Sammlung von Geschichten über das Leben von Heiligen. Maria, die Mutter Jesu, wird hier im Alter von 14 gezeigt, als sie von Gott erwählt worden war, den älteren Zimmermann Joseph zu verheiraten. Ihre Vereinigung ist durch die Platzierung ihrer rechten Hand in seine Rechte symbolisiert. Die Jungfrau wird geführt von einer Engel-ähnlichen Figur, die wie ein Messdiener gekleidet ist. Der jüdische Hohepriester wird hier mit der Mitra, typisch für einen christlichen Bischof, dargestellt. Angesichts seiner Bedeutung - er dient als optisches Pendant zu Maria und ist stärker präsent als Joseph - ist es möglich, dass die Szene auch als eine Allegorie der mystischen Vereinigung der Jungfrau mit der Kirche zu verstehen ist. Zehn reich gekleidete Zuschauer, sechs Frauen und vier Männer, umgeben die zentrale Gruppe. Die Qualität der Ausführung zeigt sich in Details, wie der genauen Darstellung der Gesichter, des wallenden Haares und der organischen Gliederung der Gewänder der Figuren. Die beiden Figuren, die im Vordergrund von hinten zu sehen sind, entsprechen Motiven des Malers Rogier van der Weyden (um 1400-1464) von Brüssel. Wahrscheinlich sind diese Reliefs in dieser Stadt erdacht und geschnitzt worden.
Entstehungsort stilistisch: Brüssel
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