Ein schauriges Bild schmückt die Schulter dieses Wassergefäßes: Drei mit langen Gewändern und Schrägmänteln bekleidete Frauen streben in schnellem Schritt auseinander. Bei genauem Hinsehen erkennt man, dass sie in den Händen menschliche Körperteile halten: die linke einen Arm und ein Bein, die mittlere einen weiteren Arm und einen nackten männlichen Rumpf, die rechte schließlich ein Bein und den Kopf eines bärtigen Mannes. Dargestellt ist das Schicksal des thebanischen Königs Pentheus, das wir in aller Ausführlichkeit aus der 405 v. Chr. posthum uraufgeführten Tragödie „Die Bakchen“ des berühmten athenischen Dichters Euripides kennen.
Der Sage nach weigerte sich Pentheus, Dionysos, den Sohn seiner Tante Semele, als Gott anzuerkennen und dessen Kult in Theben einzuführen. Zur Strafe sorgte Dionysos dafür, dass die thebanischen Frauen bei ihren rasenden Tänzen im Gebirge den König für ein Tier hielten und in ihrer Verblendung zerrissen. In seinem Theaterstück schildert Euripides eindringlich, wie Agaue, die Mutter des Pentheus, mit dessen Kopf im Arm umherschweift und plötzlich erkennen muss, dass sie den eigenen Sohn getötet hat. So könnte in der rechten Frau Agaue gemeint sein, auch wenn das Gefäß fast 100 Jahre älter ist als das euripideische Drama. Doch hat es bereits vorher von Thespis, der als „Erfinder“ der Tragödienform gilt (spätes 6. Jahrhundert v. Chr.), und von Aischylos nicht erhaltene Pentheustragödien gegeben; der Mythos existierte also schon früher.
Von Göttern und Menschen - Bilder auf griechischen Vasen (2010) Nr. 22 (A. Schwarzmaier).
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